Plenarvorträge

Stefan Oeter (Universität Hamburg): Sprachpolitik für autonome Minderheiten als Gegenstand des Völker- und Verfassungsrechts

Minderheitensituationen sind typischerweise geprägt durch Routinen der Mehrsprachigkeit, da in der Regel Kommunikation in formalen Kontexten (Behörden., Gerichte) über das Medium der Nationalsprache stattfindet, Kommunikation im Nahbereich dagegen in der Minderheiten­sprache. Dies führt zu Asymmetrien im Sprachgebrauch, die den Erhalt der Minderheitensprachen in der Generationenfolge bedrohen. Will man dem gegensteuern, bedarf es einer gezielten Sprachpolitik. Sprachenpolitik in Europa zeigt eine große Bandbreite an Konzepten und Einstellungen, aber auch konkreten Instrumenten. In Teilen ist dies Ausfluss ganz unterschiedlicher historischer und politischer Prägungen des jeweiligen Staatsmodells, in Teilen aber auch Ausfluss sehr unterschiedlicher minderheiten- und sprachpolitischer Problemlagen. Gleichwohl lassen sich unter diesen Voraussetzungen gemeinsame Ziele, Leitlinien und Standards der Sprachpolitik für autochthone Minderheiten denken. Beweis dafür bilden die einschlägigen Dokumente und Konventionen des Europarates, die im Vortrag im Vordergrund stehen sollen. Doch auch die verfassungsrechtlichen Maßgaben gehen in die gleiche Richtung (insbes. die Landesverfassungen SLH, SN, BRB). Alle genannten Dokumente eint ein übergreifendes Ziel – die Bewahrung kultureller und sprachlicher Diversität. Dieses Ziel ist in den beiden Konventionen des Europarates – der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 – wie in den Schutzklauseln einiger Landesverfassungen zu spezifischen Leitlinien des Schutzes heruntergebrochen, aus denen sich konkrete Schutzstandards ergeben. Der Vortrag fokussiert auf die Erfahrungen im Rahmen der Europäischen Sprachencharta und zeigt an den vertraglichen Gewährleistungen der Charta, aber auch an der (sehr diversen) Umsetzungspraxis auf, wie sich mittlerweile tragfähige normative Konsense einer nachhaltigen Sprachpolitik für Minderheiten entwickelt haben, aber auch wo die Problemzonen liegen, in denen nationale Sprachenpolitik vielfach weiterhin defizitär bleibt.
Zur Person:
Geb. 1958, 1979-1983 Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Heidelberg und Montpellier; nach Referendarzeit (1984-1987) von 1987-1999 wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; 1990 Promotion zum Dr. iur., Heidelberg; 1997 Habilitation in Heidelberg; seit 1999 Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht und Direktor des Instituts für internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg;. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt u.a. die vergleichende Föderalismusforschung, der Schutz von Sprach- und Kulturminderheiten, das Humanitäre Völkerrecht und die Theorie des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen. Er ist Vorsitzender der Historical Commission der International Society for Military Law and the Laws of War, Mitglied des Permanent Court of Arbitration (Den Haag) und war von 1999-2017 deutsches Mitglied und (von 2006-2013) Vorsitzender des Unabhängigen Expertenkomitees für die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates.

Natalia Gagarina (Leibniz-Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft, Berlin): Wissenschaftliche Ergebnisse für den Transfer übersetzt, Handlungsempfehlungen für die Politik ausformuliert… und dann?

Der Beitrag befasst sich mit den Herausforderungen, die nach der Übersetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in praxisnahe Handlungsempfehlungen für die Politik entstehen. Der Transfer von Forschungserkenntnissen in konkrete politische Maßnahmen ist ein zentraler Schritt zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung. Doch was geschieht, nachdem Handlungsempfehlungen formuliert wurden? Am Beispiel des Transfers am Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft und der Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat analysiere ich die Lücke zwischen wissenschaftlichen Ergebnissen und deren tatsächlicher Implementierung (in der Politik). Dabei zeige ich, wie die wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis übersetzt und zusammen mit den politischen Akteuren diskutiert werden können. Es wird argumentiert, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Formulierung von Handlungsempfehlungen sowie ein gezielter Dialog zwischen Wissenschaft und Politik zentrale Komponenten einer erfolgreichen Implementierung sind. Dies gilt im besonderen Maße auch für das Monitoring der Implementierung. Ausgehend von den Best-practice-Beispielen formuliere ich Vorschläge, wie die Verknüpfung von Wissenschaft und politischer Praxis nachhaltig verbessert werden kann.
Zur Person:
Prof. Dr. Natalia Gagarina ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Zentrums Allgemeine Sprachwissenschaft und sie leitet den Forschungsbereich 2 ‚Sprachentwicklung & Mehrsprachigkeit‘. Sie ist seit September 2020 apl. Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit Dezember 2017 Gastprofessorin an der Uppsala Universität. Am ZAS leitet sie derzeit fünf Projekte und arbeitet dabei mit folgenden Kooperationspartnern zusammen:
Prof. Angela Grimm, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität; Prof. Tanja Rinker, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt; Prof. Anna-Lena Scherger, Technische Universität Dortmund, Sprachdiagnostik mehrsprachiger Kinder: Validierung einer Testbatterie
Prof. Dr. Veronika Makarova & Valery Chirkov, University of Saskatchewan, Alla Nedashkivska, University of Alberta, Lana Soglasnova, University of Toronto, Soziokulturelle und sprachliche Praktiken und Bedürfnisse von Einwanderergemeinschaften: die Auswirkungen der Pandemie und die Erholung nach der Pandemie
Prof. Dr. Ewa Haman, Universität Warschau; Multilingual Language Development and Assessment Lab (MultiLADA), Macro- and microstructure of narrative discourse in Polish
Schwerpunkte ihrer Forschung sind Dynamiken der (slavischen) Herkunftssprachen in den Bereichen Lexikon, Morpho-Syntax, Diskurs, insbesondere Aspekt und Anaphern. In den letzten Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit der Makro- und Mikrostruktur von narrativem Diskurs und der Entwicklung von Verfahren zur Sprachstandserfassung bei Mehrsprachigen.

Vít Dovalil (Karls-Universität Prag): Sprach(en)politik in Deutschland: Kritische Reflexionen der Theorie und Praxis

Im Vortrag präsentiere ich einen synthetischen Blick auf die Sprach(en)politik in Deutschland als ein Selbstregulierungssystem bzw. als Zusammenspiel verschiedener Verhaltensweisen unterschiedlicher Akteure zur Sprache. Die Makroperspektive steht im Vordergrund. Aus Gründen auseinander-gehender Auffassungen (z. B. Marten, Spolsky, Gazzola et al., Grin, Neustupný/Jernudd oder Kimura) werden einleitend die Begriffe Sprach(en)politik und Sprachproblem geklärt und dabei die wichtigsten Gemeinsamkeiten identifiziert. Diese konzeptuelle Diskussion geht vom metasprachlichen Charakter als gemeinsamem Nenner der präsentierten Ansätze aus. Sprachprobleme werden als soziale Probleme klassifiziert.  Als zentral stellt sich dabei die Frage, wer die Sprachprobleme identifiziert und aus etwasdiskursiv ein Sprachproblem schafft, welches die politischen Diskussionen überhaupt auslöst und deren Entwicklung weitertreibt. Der Vortrag geht nicht nur auf explizit formulierte Formen der Sprach(en)politik (overt policy) ein, sondern auch auf die weniger sichtbaren Gestalten politischer Aktivitäten, die nicht unter allen Umständen in Dokumenten wie z. B. in Gesetzen oder anderen für verbindlich gehaltenen Texten präzise ausformuliert sein müssen (covert policy). Die Schlussfolgerungen dieser Diskussion werden für die Strukturierung des praxisbezogenen Teils des Vortrags verwendet. Im Fokus liegen die Bereiche der Korpusplanung (Fortsetzung der Standardisierung, Fragen der Rechtschreibung), der Statusplanung (Stellung des Deutschen in Deutschland, Sprachverbreitungspolitik, Deutsch im Ausland) wie auch der Erwerbsplanung (Probleme mit Mehrsprachigkeit innerhalb Deutschlands). Anschließend werden Voraussetzungen für erfolgreiche Sprach(en)politik diskutiert. Als Ausgangspunkt dienen die sozioökonomischen bzw. soziokulturellen Umstände, auf deren Beeinflussung zugunsten der sprach(en)politischen Ziele sich die politischen Aktivitäten konzentrieren sollten. Dieser sozioökonomische Bereich stellt eine Voraussetzung für günstige Bedingungen der kommunikativen Praktiken dar, an die die Erweiterung der Sprachkenntnisse anknüpfen kann.
Zur Person:
Dr. Vít Dovalil hat an der an der Karls-Universität Prag Germanistik und Politikwissenschaft und außerdem Jura studiert. Seine 2003 abgeschlossene Dissertation behandelte „Ausgewählte grammatische Phänomene des neuen Standards und der Destandardisierung im geschriebenen Gegenwartsdeutsch“. Seit 2004 ist er am Institut für germanische Studien der Karls-Universität Prag beschäftigt, von 2000 bis 2006 war er Geschäftsführer des Instituts.
Verschiedene Forschungsaufenthalte, u.a. in Oxford, Heidelberg, New York; Lehrstuhlvertretungen in Freiburg im Breisgau.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen einerseits im Bereich der Morphologie und Syntax des Gegenwartsdeutschen, andererseits in der Soziolinguistik und dort insbesondere auf Fragen von Sprachplanung, Sprachmanagement, Sprachpolitik und Sprachenrecht.

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